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Vorgeschichte

Als „Vater unser in der Hölle“ im November 1996 auf den Markt kam, hatte das Buch schon eine bewegte Geschichte hinter sich.

Zwei Jahre zuvor war im Piper Verlag meine Anthologie skurriler Kurzgeschichten „Nur noch einmal“ erschienen. Diese verwegenen kleinen Geschichten waren mein Gegengewicht zu den schweren Themen, über die ich meist arbeitete. „Nur noch einmal“ half mir -nicht nur einmal- mein psychisches Gleichgewicht auszubalancieren. Denn ich wollte mich auch mal schreibend zum Lachen bringen. Am liebsten so wie Diane Keaton in „Was das Herz begehrt".



Einige dieser Kurzgeschichten entstanden ab 1991, als ich Autorin bei Cosmopolitan war. Die Redaktion räumte diesen gegen den Strich gebürsteten, etwas verrückten Weibergeschichten einen besonderen Platz ein -die Doppelseite vor der Modestrecke- und ließ sie von Boris Kaip liebevoll ins Bild setzen.

„Nur noch einmal“ verkaufte sich gut -nicht nur einmal-, lief durch mehrere Auflagen, einige der Texte werden bis heute in Anthologien nachgedruckt, später brachte der Rowohlt Verlag sie in etwas anderer Mischung erneut heraus.

Genug Motivation also für einen Verlag, sich auch mein nächstes Projekt anzuschauen: Multiple Persönlichkeiten.

Multiple Persönlichkeiten

Schon seit Ende der 80er Jahre beschäftigte mich die -damals so genannte- Multiple Persönlichkeitsstörung (MPS). Ich kannte die amerikanischen Bücher über Menschen, die seit früher Kindheit andauernde extreme Gewalt überlebten, indem sie sich in verschiedene Persönlichkeiten aufspalteten (Die drei Gesichter Evas, Ich bin viele, Sybil, Aufschrei, Die Leben des Billy Milligan). Wenn dieses Phänomen wirklich existiert, dachte ich, dann gibt es auch hier Betroffene, in diesem Land mit einer besonderen Gewalt- und Foltergeschichte. Ich machte mich auf die Suche.

Ich schrieb Psychiatrien in verschiedenen Bundesländern an und fragte nach Multiplen Persönlichkeiten unter den Patienten und Patientinnen. Die Antworten ließen mich aufhorchen. Das Phänomen wurde durchweg geleugnet. Die Erklärungen changierten zwischen unwissend und absurd. Ein Mediziner belehrte mich, Multiple Persönlichkeiten gäbe nur in den USA, wo sie durch zu viel Fernsehen entstünden, ein anderer vermutete, ich hätte mich im Begriff geirrt und meinte wohl Schizophrenie.

Eines Tages stieß ich auf die Kleinanzeige einer Frau in Emma: Ich bin viele und suche andere Betroffene. Wie geht Ihr damit um?, hatte sie sinngemäß gefragt. Ich schrieb ihr: Zwar bin ich nur eine, aber ich möchte auch wissen, wie Ihr damit umgeht.

So begegnete ich Eva. Zusammen mit dieser jungen Frau recherchierte ich mich durch die deutsche Traumatherapeuten-Szene. Groß war die damals nicht. Es entstanden erste Selbsthilfeprojekte. Ich lernte Menschen kennen, die seit früher Kindheit langandauernde sadistische Gewalt erlebt hatten. Und nur überlebten, indem sie ins Innere ihrer Seele geflüchtet waren, um das Unerträgliche nicht wahrnehmen zu müssen. Ich lernte TherapeutInnen, ÄrztInnen, HelferInnen von Betroffenen kennen. Auch Ärztinnen, die selbst betroffen waren. Multipel.

Der Artikel über Evas Geschichte erschien 1992 in Cosmopolitan.

Kurz darauf lernte ich die Frau kennen, deren Geschichte als „Angela Lenz" ich später in „Vater unser in der Hölle" erzählen würde.

Zwei Jahre zuvor hatte ich eine besonders große Matrjoschka von einer Reisereportage aus Kaliningrad/Königsberg mitgebracht. Matrjoschkas, buntbemalte russische Puppen, in denen sich -ineinander geschachtelt- immer kleinere Versionen der großen verbergen, erschienen mir immer wie ein schönes Bild von Multipel-Sein. Daher schenkte ich Eva diese Puppe. Als sie später die erste deutsche Zeitung für multiple Menschen schrieb und produzierte, gab sie ihr den Namen "Matrioschka". Diese Selbsthilfe-Zeitung erschien von 1994--1997 und ist heute noch über Vielfalt e.V. in Bremen zu bestellen. Vielfalt e.V. ist ein Beratungs- und Informationsangebot für multiple Menschen, das von engagierten Fachfrauen und Betroffenen 1995 gegründet wurde.

1995 gründete sich auch die deutsche Fachstudiengruppe der ISSD und bietet seither jährlich Tagungen zum Bereich dissoziativen Störungen an.

Verlagsgeschichte

Dr. Ralf Märtin, Geschäftsführer von Piper, fand das Projekt interessant. Wir schlossen einen Buchvertrag. Auch mit Angela Lenz schloss ich einen Vertrag. Erstmalig in der deutschen Rechtsgeschichte entwarf Rechtsanwalt Helmut Jipp einen Vertrag, der nicht nur für Angela Lenz, sondern für alle ihre Persönlichkeiten bindend sein sollte (little did we know).

Inzwischen wechselte die Geschäftsführung von Piper: Ralf Märtin ging zu Beltz, vom Carlson Verlag kam Viktor Niemann im Auftrag des schwedischen Familienunternehmens und Mega-Medienkonzerns Bonnier als Geschäftsführer zum Piper-Verlag, der gerade von Bonnier übernommen worden war.

Drei Jahre hatte ich Angelas Geschichte recherchiert, mich in das Wissen über organisierte Kriminalität, grausame Gewalt gegen Kinder, Zwangsprostitution, Folter, Indoktrinierung durch Kulte und Sekten eingearbeitet. Mir war klar: Dieses Buch mache ich nur mit jemandem, dem ich zuvor in die Augen geblickt habe. Diese Gelegenheit ergab sich nicht. Wir lösten den Vertrag.

Ich wurde Mitglied eines wissenschaftlichen Fachverbandes, beschäftigte mich mit Traumafolgestörungen, wollte es genauer wissen: Was geschieht im Gehirn im Moment des Traumas? Ist es möglich, dass jemand etwas Schreckliches erlebt und über Jahrzehnte vergisst? Wie funktioniert das? Wo sind derartige Ausmaße von Gewalt bekannt und werden nicht geleugnet?

Nach einer Weile folgte das Projekt Dr. Märtin zum Beltz Verlag. Der Verlag bekam eine Ahnung vom vollen Ausmaß der zu beschreibenden Gewalt, als ich die erste Fassung vorlegte. Eine Anwaltskanzlei wurde beauftragt zu prüfen, ob es sich bei „Vater unser in der Hölle" möglicherweise um eine gewaltverherrlichende oder eine pornographische Schrift handelt. Beides wurde verneint – was nicht verwundert. Darüber hinaus wurde ich eine lange Zeit damit beschäftigt, meine Zitate zu belegen.

Während ich also am Kopierer stand, veröffentlichte Psychologie heute den Vorabdruck eines Buches von Richard Ofshe, das im Herbst 1996 auf deutsch erscheinen sollte: Die mißbrauchte Erinnerung. Von einer Therapie, die Väter zu Tätern macht. (Richard Ofshe, Ethan Waters: Making Monsters: False Memory, Satanic Cult Abuse, and Sexual Hysteria. 1994) Die Produktion meines Buches aber verzögerte sich mehr und mehr.

Psychologie heute gehört zum Beltz Verlag. Ob es einen Zusammenhang gab, weiß ich nicht. Auch wusste ich wenig über Richard Ofshe, der damals schon zum Beratergremium der False Memory Syndrom Foundation gehörte (Darstellung der False Memory-Kontroverse). Meine Recherchen zu Ofshe und seinem Einfluss auf die deutsche Presse sind hier nachzulesen: http://www.dissoc.de/02-05.html

Damit das Buch 1996 erscheinen konnte, musste ich noch einmal den Verlag wechseln. Die Kallmeyer'sche Verlagsbuchhandlung nahm das Projekt sozusagen unter ihre Fittiche. Dieser kleine Verlag mit dem -in Marketing-Hinsicht unpraktisch- langen Namen gehört zum Friedrich Verlag, einem großen Pädagogik-Verlag, damals unter der erfolgreichen Leitung von Uwe Brinkmann. Das Projekt war ihm von Heide Niemann empfohlen worden, Mitherausgeberin der "Grundschulzeitschrift" aus dem Friedrich Verlag. Heide Niemann, damals Direktorin beim Niedersächsischen Landesinstitut für Schulentwicklung und Bildung, und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben, war früher selbst Lehrerin gewesen. Das Kapitel "Die Lehrerin" in "Vater unser in der Hölle" weckte in ihr Erinnerungen an eigene Beobachtungen, die sie später in einer berührenden Buchkritik beschrieb.

Die Gespräche mit "Angela Lenz", die Recherchen für das Buch, Einschüchterungsversuche, über die ich mich nie öffentlich geäußert habe, schufen in mir ein präsentes Wissen über ein Ausmaß an Gewalt gegen kleine Kinder, das nicht leicht zu ertragen war. Daher taten mir die Unterstützung und sogar Begeisterung des Teams im Friedrich Verlag gut. Das Engagement ging über die üblichen Grenzen hinaus: um zur Buchmesse 1996 präsentieren zu können, produzierten sie das gebundene Buch in zwei Wochen. Dafür bin ich ihnen heute noch dankbar.

Journalismus und Trauma

Die Sekundärtraumatisierung, in die ich für eine Weile durch diese Recherchen "hineintappte", schärfte langfristig meinen Blick für KollegInnen, denen Ähnliches passiert war, sei es bei der Berichterstattung aus fernen Krisengebieten oder über Verbrechen, Verkehrsunfälle, Zugkatastrophen im eigenen Land.

Im Internet finden sich viele Hinweise auf Berufe, mit denen traumatische Erlebnisse einhergehen könnten, z.B. Polizei, Medizin, Psychotherapie, Sanitätskräfte, Feuerwehr. Bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts fehlte die Erwähnung von Journalisten fast vollständig. Doch auch sie können "first responders" sein - also als erste am Ort der Katastrophe auftauchen.

Zunehmend beschäftigte ich mich damit, wie Gewalt medial vermittelt wird. Und zu welchem Zweck. Ab Herbst 1999 gab mir das Journalisten-Kolleg der Freien Universität Berlin die Möglichkeit, zwei Semester lang zum Thema "Trauma, Tabu und Sprache" zu forschen und an allen Berliner Universitäten zu studieren.

Zwei Fragen wurden mir immer wichtiger:

"Wie gehen Journalisten mit traumatisierten Menschen um?"
Und wie gehen Journalisten mit sich selbst um, wenn sie von traumatischen Ereignissen gestreift wurden?

Zwischen beiden Fragen gibt es einen Zusammenhang.

Viele Frauenberatungsstellen wie z.B. Notruf, Wildwasser, und andere Anti-Gewalt-Initiativen, die mich zu Vorträgen einluden, weisen immer wieder auf ihre Schwierigkeit hin, genügend Öffentlichkeit für das Gewalt-Thema herzustellen. Andererseits erleben sie oft, dass derartige Presseberichte die Betroffenen eher belasten als ihnen nützen.

Es gibt ein Kommunikationsproblem zwischen Initiativen und Medien. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob sie überhaupt gemeinsame Interessen verfolgen.

1999 wurde das DART Center for Journalism and Trauma an der Universität von Washington gegründet. DART, eine amerikanische Stiftung, die sich seit Jahren mit Trauma und Journalismus beschäftigt, lud mich 2002 freundlicherweise zu ihrer ersten Konferenz in Deutschland ein.

2006 fand die erste deutsche Fortbildung für ARD- und ZDF-Programm-Mitarbeiter "Trauma und Journalismus" statt, organisiert von Redakteurin und Supervisorin Fee Rojas in enger Zusammenarbeit mit Mark Brayne vom DART Centre London. Ich moderierte eine Podiumsdiskussion von TV-Auslandskorrespondenten. Aber es war der kurze Vortrag von Claudia Fischer, freie WDR-Mitarbeiterin, über den ganz normalen Alltag von Lokalreportern, der die belastende Nähe alltäglichen Schreckens in der Berichterstattung sehr deutlich machte.

2007 wurde DART Deutschland von Petra Tabeling und Fee Rojas gegründet. Spät, wenn man -wieder einmal- die deutsche Traumageschichte bedenkt. Später als in manchen anderen Ländern.

Inzwischen gibt es eine Internet-Befragung von Journalisten zu berufsbedingter Traumatisierung. In Suchmaschinen findet man schon einige Informationen.

Doch innerhalb von Sendeanstalten und Redaktionen ist das Thema immer noch tabu; es gibt weder Supervision noch kollegiale Intervision in den großen Medien. Journalisten sprechen am Arbeitsplatz nicht darüber, wenn das Grauen ihnen allzu nahegekommen ist. Angst um den Job, sorge, als arbeitsunfähig, vielleicht sogar als "verrückt" zu gelten, sind gewichtige Gründe. Auch in die journalistische Ausbildung wurde das Thema bisher nicht systematisch aufgenommen.

Sollte sich etwas daran verändert haben, bitte ich um Informationen.


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